Buchbesprechung: Lise Eliot: Wie verschieden sind Sie?
Berlin-Verlag, ISBN 078-3-8270-0572-4
Dies ist ein Aufklärungsbuch. Es räumt auf mit wissenschaftlichen und populären Mythen über angeblich unüberbrückbare neurologische Unterschiede zwischen Männer und Frauen, Jungen und Mädchen.
Aus dem Buch
„Wenn Sie hier und da etwas über Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gelesen haben, ist bei ihnen vermutlich der Eindruck entstanden, Wissenschaftler hätten mannigfache Geschlechtsunterschiede in Struktur, Funktionsweise und Neurochemie des Gehirns entdeckt: das Gehirn von Mädchen sei auf Kommunikation, das von Jungen auf Aggression programmiert …. Bei Jungen sei, während sie sich mit mathematischen Aufgaben beschäftigten, der Hippokampus aktiv, bei Mädchen die Großhirnrinde. Mädchen nutzten vor allem die linke, Jungen die rechte Gehirnhälfte. Diese Thesen verbreiteten sich wie ein Buschfeuer, doch sind sie durchweg problematisch.“
Lise Eliot wertet den aktuellen biologischen und psychologischen Forschungsstand zur pränatalen, kindlichen und jugendlichen Geschlechterdifferenz aus. Im Stil charmant anekdotisch und gleichzeitig empirsch-analytisch trennt sie mit chirurgischer Präzision wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Folkore von tatsächlich belastbaren Befunden.
Übrig bleibt nach ihrer Erkenntnis als Momentaufnahme vor allem dies:
Aus dem Buch
„Nach derzeitigem Forschungsstand gleichen sich die Gehirne von Mädchen und Jungen weit mehr, als die ausgiebig erforschten Verhaltensunterschiede nahelegen.“
Das menschliche Gehirn ist ein ungeheuer plastisches Organ – jedes Kind entwickelt es selbst durch den Gebrauch, den es von ihm macht. Ganz ähnlich formuliert es seit Jahren der Göttinger Neurologe Gerald Hüther:
O-Ton Hüther
„Das Hirn strukturiert sich anhand der konkreten Nutzungsbedingungen; das hilft uns auch, zu verstehen, warum Kinder in unterschirdlichen Regionen dieser Erde unterschiedliche Gehirne bekommen, weil dort unterschiedliche Erfahrungen gemacht werden. Möglich wäre alles gewesen, d h wenn eines unserer heutigen Kinder, die hier groß geworden sind, im amazonischen Regenwald groß geworden wäre, dann hätte es wahrscheinlich gelernt 20 verschiedene Sorten von Grün nicht nur differenzieren zu können, sondern benennen zu können.“
Als gesichert kann derzeit gelten: Jungen sind in vielerlei Hinsicht bei der Geburt das schwächere Geschlecht. Sie sind anfälliger für Atemwegserkrankungen, fühlen sich unsicherer und brauchen mehr Halt. Sie wachsen zwar während der Schwangerschaft schneller, aber ihre körperliche Entwicklung bleibt dennoch um einige Wochen hinter der der Mädchen zurück. Diese haben bei der Entwicklung mancher Nervenzellen des Gehirns einen dreiwöchigen Vorsprung.
Eliot untersucht chronologisch die jeweiligen Entwicklungsstufen, von der Schwangerschaft über die Babiezeit bis zur Pubertät. Auf jeder dieser Entwicklungsstufen entzaubert sie überkommene pseudowissenschaftliche Klisches.
Wie zum Beispiel mit dieser Anekdote aus dem Kindergarten. Der Junge Jeremy wurde von einem anderen Jungen als Mädchen gehänselt, weil er eine Haarspange trug.
Aus dem Buch
„Jeremy ließ zum Beweis seiner Männlichkeit die Hose herunter. Das überzeugte den anderen jungen nicht. Er entgegnete. Einen Penis haben alle – aber Haarspangen tragen nur Mädchen.“
An Geschichten wie dieser illustriert Lise Eliot die nach ihrer Ansicht stärkste Ursache bei der Entstehung von Geschlechterdifferenzen: Den Druck durch Konventionen. Bereits lange vor dem Kindergartenalter, so die Autorin, erlernen Jungen und Mädchen ihre Rollenmuster – vor allem durch Nachahmung.
Aus dem Buch
„Jungenhafte Mädchen und mädchenhafte Jungen müssen ungeheuer viel in Kauf nehmen, um sich gegen kulturelle Normen zu behaupten – unter anderem die meist heftige Missbilligung von Familienmitgliedern und die gnadenlosen Hänseleien anderer Kinder. Am schwersten haben es natürlich die mädchenhaften Jungen.“
Ein Junge, der viele mädchentypische Verhaltensweisen zeigt, wird mit sechsmal höherer Wahrscheinlichkeit zu einem Psychiater geschickt, als ein Mädchen mit vergleichbarem Repertoire männlicher Verhaltensweisen.
Das lässt den Schluß zu: Nicht Gene oder Hormone , sondern zuallererst die Eltern drängen Kinder in Geschlechterrollen. Die Resultate schlagen sich zum Beispiel in schulischen Leistungen nieder: Mädchen sind schlecht in Mathe, Jungen können schlechter lesen und schreiben – so die Bilanz vieler Tests. Dass dies nicht so sein muss, sagt Maria Christoph, Grundschullehrerin in Hamburg-Eimsbüttel:
O-Ton
„Das kann ich überhapt nicht bestätigen, das Jungen besser rechnen können als Mädchen. Ich hab genauso viele Mädchen, die stark sind in Mathe, wie Jungs. Auch beim Lesen ist das erstaunlich ausgeglichen.“
Die Pädagogin hat auch eine Vermutung, warum das an ihrer Schule so ist:
O-Ton
Ich hab den Eindruck, dass wir mit unserem Einzugsgebiet ne bestimmte Schülerschaft haben, die von zu Hause stark unterstützt werden. Also lesen spielt ne Rolle zu Hause und erreicht genauso die Jungs wie die Mädchen.
Beim Schreiben allerdings, das räumt Lehrerin Christoph ein, sind die allgemein bekannten Differenzen zwischen Jungen und Mädchen auch bei ihren Schülern erkennbar:
O-Ton
„Beim Schreiben da muss ich schon sagen da ist es tatsäch so, dass die Mädchen ein Faible fürs Schreiben haben, mehr Lust aufs Schreiben haben, sich da mehr ausbreiten können, längere Texte von sich geben, mehr Freude haben, sich durch Sprache auszudrücken.“
Warum Jungen zunächst Schwierigkeiten beim Schreiben haben, ist derzeit noch nicht eindeutig wissenschaftlich gesichert. Eliot hält die Hypothese für plausibel, dass die Feinmotorik bei Jungen wegen ihres postnatalen Entwicklungsrückstands im Vergleich zu Mädchen zunächst zurückbleibt. Doch leetztlich seien solche Unterschiede irrelevant.
Aus dem Buch
„Das Geschlecht spielt für die Ausprägung der sprachlichen Fähigkeiten keine auch nur annähernd so große Rolle, wie viele Eltern glauben, wohingegen die Umwelt eines Kindes einen sehr großen Einfluss ausübt.“
Das Buch ist passagenweise spannend wie ein Krimi: Immer dann, wenn Eliot wissenschaftliche Falschaussagen widerlegt. „Frauen verwenden pro Tag 20.000 Wörter, Männer nur 6.000 ?“ – Falschaussage. „Frauen benützen beim Sprechen beide Gehirnhälften, Männer nur eine“ ? Irrtum. Jahrelang wurde auch ein Test zitiert, wonach neugeborene Jungen etwas länger ein Mobile anschauten, als das Gesicht einer Kontaktperson. Das Resultat wurde von populärwissenschaftlichen Bestseller-Autoren wie Louann Brizendine als Beweis für das emotional leistungsfähigere Mädchengehirn gedeutet. Eliot nimmt sich die konkrete Versuchsanordnung vor und listet Schwächen auf. Außerdem konnte das Experiment so bisher nicht mehr bestätigt werden. Umgekehrt existieren zahlreiche Versuche, die zu gegenteiligen ergebnissen kamen, aber kein öffentliches Interesse hervorriefen.
Die Quintessenz des Buches bedeutet eine Herausforderung:
Aus dem Buch
„Wenn wir einräumen, dass Geschlechterdifferenzen veränderbar sind, lädt das Eltern und Lehrern zweifellos eine größere Verantwortung auf.“
Das Buch von Lise Eliot ist ein wissenschaftliches Aufklärungsbuch, es versteht sich aber ebenso als Ratgeber für Eltern und Erzieher. Die Autorin listet viele praktische Vorschläge zur Förderung der kindlichen Entwicklung auf. Um jetzt auch mal etwas kritisches anzumerken: Ob das bis hin zu Still-empfehlungen gehen muss, sei allerdings dahingestellt. Die knapp 500 Seiten sind flüssig geschrieben, anekdotenreich, aber nicht tratschig. Ein wirklich tolles Buch! Pädagogisch wertvoll- vor allem auch für Journalisten und andere Erwachsene, deren Biologieunterricht schon einige Jahre zurückliegt.