Die Choreografie des Fußballs

Aktuelles, Allgemein, Fußball, Kultur

Essay ausgestrahlt am 8.6.2015 bei SWR 2.
http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/essay/swr2-essay-lebende-bilder/-/id=659852/did=15440564/nid=659852/sdpgid=1094659/133ejrd/index.html

These: In der historischen Epoche des iconic turn konkurrieren Fußballfans und Fußballprofis um Aufmerksamkeit. Beide Milieus nutzen unterschiedliche Performance-Techniken, deren symbolische Ordnung die TV-Sender zu deuten und damit zu kontrollieren beanspruchen.

Abstract: Die Massensportereignisse der Moderne sind oft mit religiösen Metaphern beschrieben worden. So deuten die zahlreichen Rituale innerhalb der Fußballstadien auf Formen ziviler Religiosität. Die Fangemeinde feiert ihre Heiligen im Rahmen einer weltlichen Liturgie. Die Gesänge in den Stadien verglichen Kulturwissenschaftler mit religiösen Hymnen.
Doch die tatsächliche und mediale Realität der Stadioninszenierungen haben sich in den letzten 15 Jahren stark gewandelt: Weg vom Wort, hin zum Bild.
Die mediale Revolution der Medien hat einen iconic turn ausgelöst und damit auch eine neue Bildsprache für ein Fußballereignis entstehen lassen.

In der neuen Performance-Kultur führen Spieler und Fans einen Wettbewerb um Aufmerksamkeit.
Die Ultra-Fans haben die Technik der Massenornamente, die Sigfried Kracauer in den 20er Jahren beschrieb, neu interpretiert und inszenieren sich im Stadion mittels großflächiger Choreografien aus Menschenkörpern.
Aber auch die Fußballprofis greifen zu Inszenierungen. In den Momenten des Torjubels verwandeln sie ein Areal des Spielfelds in eine Improvisationsbühne, um dort kleine Choreografien aufzuführen. Auch sie greifen, wenn auch nicht bewusst, historische Vorbilder auf: Sie stehen in der theatralischen Tradition der tableaux vivants, die im 18. Jahrhundert populär waren.

Mein Essay beschreibt die Entwicklung des Massenphänomens Fußball im 20. Jahrhundert von einer „Präsenz- und Wortkultur“ zur „Bildkultur“ und versucht, die neue Praxis der konkurrierenden Beteiligten zu deuten mit Hilfe theoretischer Ansätze aus Bildwissenschaft, Ethnografie, Psychologie, Soziologie, Philosophie und Kulturwissenschaft.

Auszug aus dem Langtext:
…..Fast scheint es, als ob sich in den neuen Praktiken Erbstücke eines barocken Katholizismus manifestierten und dabei die Spurenelemente einer bilderfeindlichen, calvinistisch inspirierten Tradition der anglikanischen low church verdrängt hätten. Die englischen Fußballstadien der 1970erJahre wurden mit Kathedralen verglichen; die machtvollen Gesänge mit religiösen Hymnen. Entsprechend passte die britische Stadionkultur zur protestantischen Form des Oratoriums, einem von Chor und Orchester aufgeführten religiösen Singspiel. Die theatralische Bildsprache der Ultras gehört dagegen zur Sphäre der Oper……
Die Ultras knüpfen mit ihrer Bildpraxis an die Bildergläubigkeit des Mittelalters an.
Für die Gläubigen im Mittelalter waren die Heiligen auf den Wandgemälden der Gotteshäuser tatsächlich körperlich anwesend. Für die Ultras sind ihre Bilder in einem säkularen Sinn „heilig“……
Diese Entwicklung hat mit dem Publikum auch die Fußballprofis erfasst. In den Momenten des Torjubels verwandeln sie ein Areal des Spielfelds in eine Improvisationsbühne, um kleine Choreografien aufzuführen.
Die Fußballprofis kommunizieren mit ihren tableaus vivants in zwei Richtungen: Für die tatsächlich anwesende Öffentlichkeit im Stadion und für die TV-Kameras einer weltweiten Medienöffentlichkeit. Dabei stehen sie im Licht, beschienen von auratischem Glanz und Charisma…….