Buchkritik: Damals, am Meer

Allgemein

Buchbesprechung
Marco Balzano, Damals, am Meer.
Verlag: Antje Kunstmann
Übersetzt von Maja Pflug
ISBN 978-3-88897-726-8
Preis: 17,90
Gesendet auf NDR INFO

Ein lesenswertes Romandebüt kommt aus Italien. Marco Balzano schreibt über Heimatverlust und Sehnsucht. Vergleichbar mit dem fiktiven Ort Combray des französischen Romanciers Marcel Proust, sucht Balzano in einer apulischen Kleinstadt nach seiner verlorenen Zeit. „Damals, am Meer, heißt sein Buch. Patric Seibel stellt es vor.

Drei Männer fahren von Norditalien nach Apulien. Nicola, sein Vater und sein Großvater. Sie wollen die alte Wohnung der Großeltern am Meer verkaufen. Längst verbringt niemand mehr die Ferien in Barletta, dem Heimatort der Großeltern. Die Großfamilie ist zerstritten, die Wohnung heruntergekommen.

Aus dem Buch
„Nachdem wir diese Wagenladung Enkelkinder aufgezogen hatten“, Großvater sprach weiter, ohne auf seinen Sohn zu hören, „hätten wir hierher zurückkehren sollen! Weg von der Stadt, die nicht unsere ist, weg von den Supermärkten, der Fabrik, Mailand und dem Teufel, der euch alle geholt hat!“

Der Großvater ist 1970 nach Mailand gegangen, wurde vom Pfirsichbauern zum Industriearbeiter. Die Generation der Kinder hat sich mit der neuen Heimat abgefunden. Geliebt wird sie nicht. Aber der Weg zurück in den immer noch armen Süden ist keine Alternative. Nicola, der Ich-Erzähler, hat ein intimes Verhältnis zu seinem Großvater. Der alte Krieger, wie er ihn nennt, ist schroff, rauh, dickköpfig aber auch gewitzt. Ein Bauer aus dem Süden. Analphabet. Von Jugend an Kommunist. Der Junge hat studiert. Er wartet auf eine Stelle als Lehrer und lebt im fragilen Gleichgewicht zwischen Ungewissheit und verlängerter Jugend.

Aus dem Buch
„Wenn ich die Wohnung in den unendlichen Kreis der Dinge einreihen musste, die nicht mehr mir gehörten, würde ich sie bald vergessen, und damit würden auch jene mit Spielen und Spaziergängen zum Meer und durch die Felder angefüllten Tage verblassen.

Auf der Fahrt gibt es immer wieder Streit zwischen Vätern und Söhnen. Aber auch Momente der Offenheit, ja Intimität. Autor Marco Balzano erzählt eine Geschichte von Entwurzelung, von der Sehnsucht nach dem Landleben, nach der Hitze des Südens gegenüber der lauwarmen Metropole Mailand. Es gibt aber keinen Weg zurück, so scheint es; nur die große Sehnsucht. Die Leerstelle. Balzano findet in seinem Debutroman eine einfache, klare und treffsichere Sprache. Er schafft es, mit wenigen Worten eine dichte Atmosphäre der geschilderten Orte zu vermitteln, sei es Mailand, eine Autobahnraststätte oder Barletta.

Aus dem Buch
Ich ließ den letzten Marktstand hinter mir, auf dem sich Miesmuscheln in Netzen türmten, dazwischen hier und da das Gelb der Zitronen. Rasch gelangte ich zur Statue des Heraklius, um die die Kinder tobten. An der Kirche lehnten die üblichen müßigen alten Männer und genossen die frische Luft. Unbeirrt lief ich vorbei, durch andere enge Gassen, bis das Meer in Sicht kam.

Das Meer spielt für die drei Generationen eine völlig unterschiedliche Rolle. Für den Großvater ist es eine Art Feld zum Fischen und Muschelsammeln. Der Vater ist uninteressiert. Nur Nicola badet.

Aus dem Buch
Ich schwamm in dem immer noch flachen und trüben Wasser, legte den Kopf zurück und fuhr mir mit den Händen durch das Haar. Ich weinte grundlos. Eine unbestimmte Zeit lang. Ich hatte keinen Ort mehr, an den ich zurückkehren konnte. Die Fantasie wurde um einen lichten Raum ärmer, der dazu gut war, sich vom Ansturm der immer gleichen Tage zu erholen.

Nicola liest Proust- und das merkt man. Was Combray für Proust ist, das ist Barletta für Nicola. Es geht um Heimweh. Romantisches Heimweh. Nach einem Ort von früher. Den es jetzt nicht mehr gibt.

Ganz mühelos verbindet Balzano die Geschichte seiner drei Hauptfiguren mit Lektionen in Soziologie, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte und Philosophie. Es sind drei Italien, die sich in den drei Generationen mitteilen. Das vormodern-agrarische, das industrielle und das Italien der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Verschiedene Epochen, die doch zeitlich parallel existieren. Es gibt bis heute in Italien die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, wenn auch räumlich getrennt zwischen Süden und Norden. Balzano schildert auch drei unterschiedliche Erfahrungen von Fremde. Die des Bauern, der als Industriearbeiter die Entfremdung doppelt spürt, weil er das heimatliche Meer und das körperliche Zupacken auf dem Land unter freiem Himmel vermisst. Die des Sohnes, der als Techniker in der neuen Heimat den sozialen Aufstieg schafft, und die Erfahrung des Enkels, der als Intellektueller einen neuen Zugang zur gemeinsamen Herkunft findet.
„Damals am Meer“ liest sich wie ein leichter Sommerroman. Salzig, mit heißem Wind und Träume vom Süden. Die Übersetzung von Maja Pflug ist sehr gelungen. Nur der Originaltitel hätte auch im Deutschen besser gepasst: Im Italienischen heißt der Roman: „Il figlio del figlio“: Der Sohn des Sohnes.