Buchbesprechung für den Saarländischen Rundfunk
Hinrich, der pensionierte Lokal-Kulturredakteur einer großen Frankfurter Zeitung, kommt nicht hinweg über den Verlust seiner Frau. Er kann und will sich nicht trennen von ihr, obwohl ihr Tod bereits neun Jahre zurückliegt:
ZITAT AUS DEM BUCH
Irene war die Liebe meines Lebens, die Nachricht von ihrem Tod der Schmerz meines Lebens, das folgende Jahr die Zeit der größten Verzweiflung. Meine Wohnung im zehnten Stock, für mich weiterhin unsere Wohnung, war nachts ein Raumschiff der Trauer; außen das leere All, am offenen Fenster stehen, die einzige Verbindung mit Irene.
Irene hat sich das Leben genommen. Warum und wieso, das ist Gegenstand von Hinrichs detektivischer Spurensuche in der gemeinsamen Vergangenheit. Nach und nach kommen Geheimnisse ans Licht, und bald wird deutlich: In der Beziehung war nicht alles so, wie es zunächst schien. Die Frage nach dem Warum von Irenes Suizid lässt Autor Bodo Kirchhoff offen:
O-Ton B. Kirchhoff
„Das beantwortet das Buch nicht – das kann das Buch nicht beantworten; natürlich hat Irene das Scheitern an der Liebe letztlich umgebracht. Sie hatte ja einen Liebhaber, von dem Hinrich erst sehr spät erfährt.“
Hinrich, der die Szenen seiner Ehe in immer neuen Tagträumen erlebt, wird heimgesucht von seinen Erinnerungen. Die Liebe mit Irene scheint für einen normalen Alltag einige Nummern zu groß; sie wirft einen überdimensionalen Schatten, dem er sich ebenso wenig entziehen kann, wie der Leser:
ZITAT AUS DEM ROMAN:
Irene atmet nur tief ein und aus, sie deutet das Immense an, das unermessliche unserer Umarmungen, die Weite und das Joch der Lust. Dann tritt sie in mein Zimmer und lässt sich aufs Bett fallen, halb auf die Seite, das obere Bein angewinkelt. Ihre Augen sind zu, sie weiß, wie ich aussehe, sie weiß auch, was ich tue. Keine Frau wurde je so gewollt, weiß sie, also kann sie sich gehenlassen, mir alles zeigen. Es waren oft verregnete Tage, wenn Irene sich selbst übertraf; Tropfen tickten gegen die Fenster, dazwischen ein ebenso feines Geräusch beim Öffnen ihrer Lippen. In unruhigen Nächten ahme ich es manchmal noch nach mit den eigenen Lippen.
Das ist der Stoff, aus dem die Depressionen sind. Doch Hinrich bleibt nicht liegen unter seiner Trauerlast. Die Bilder von Irene und anderen Geliebten bereichern sein Leben auch; sie liegen wie Filter über seinen aktuellen Wahrnehmungen und Gedanken.
Bodo Kirchhoff konstruiert Hinrichs Erlebnisse und Gefühlswelten nicht chronologisch, sondern in einer Art schwebender Gleichzeitigkeit: Wie ein Palimpsest – ein ständig neu überschriebener Text – dessen Zeilen sich überlagern. Und Hinrich blickt beileibe nicht nur zurück: Er erlebt Abenteuer, ist unterwegs zwischen Warschau und Italien schmuggelt mit seinem Enkel Schwarzgeld über die Schweizer Grenze und verliebt sich neu:
ZITAT AUS DEM BUCH
Eines Mittags warf ich noch einen Blick ins Woolworth, und da saß sie wieder, unbeschäftigt in der ruhigen Stunde, auf ihren Knien ein Buch. Ein Bild wie aus Träumen, die man gern erzählt, und ich nahm ein Päckchen Bonbons vom Regal der kleinen Wünsche neben der Kasse, worauf sie lächelte, ohne mich anzusehen, einer jener Momente, die man im Nachhinein glücklich nennt.
In solchen Szenen zeigt sich Kirchhoffs sprachliche Kunstfertigkeit: Mit leichter Hand verwandelt er Alltag in Literatur. Sorgfältig und in schönen Bildern beschreibt er Orte und Begebenheiten. Hinrich gerät im Roman auf eine Odyssee- gleichzeitig weg von Irene und zu ihr zurück. Kirchhoff ist der Überzeugung, dass es eine wirklich neue Liebe, einen Neuanfang mit einem anderen Menschen nicht geben kann, weder in seinem Roman, noch in der Realität:
O-Ton B. Kirchhoff:
„Das Verlangen ist einfach in der Erinnerung da. Das Buch hat ja auch viel mit der Erinnerung zu tun und der Versuch, die Erinnerung mit der Realität deckungsgleich zu bringen; und der Mensch, der uns die Illusion gibt, man könnte das bei ihm, ist nicht der Mensch, den wir eigentlich suchen. Aber wir sehen in ihm das, was wir suchen und gleichzeitig erleben wir immer wieder dieses Stück Enttäuschung, dass es eine Differenz gibt und dann setzt die Melancholie ein. Es gibt kein Verlangen ohne Melancholie – die Melancholie ist der Preis.“
Verlangen und Melancholie – diese beiden Gefühlszustände sind auch Schlüsselbegriffe des französischen Psychoanalytikers Jaques Lacan. Die emotionalen Verstrickungen Hinrichs und Irenes könnten auch als literarische Umsetzung von Lacans skeptischen Einsichten in die grundsätzlichen Erfolgschancen einer Zweierbeziehung gelesen werden.
Doch trotz dieser komplizierten psychologischen Tiefenstruktur und trotz zahlreicher zusätzlicher Referenzbögen von Goethe über Kleist bis zu Pasolini ist Verlangen und Melancholie kein schwieriger Roman:
O-Ton B. Kirchhoff:
„Letzten Endes sind meine Bücher keine theoretischen Werke, sondern höchst lesbare Büche, das muss ich deutlich dazu sagen. Diese ganzen Dinge, die gehen vielleicht mir durch den Kopf oder Ihnen oder anderen auch. Die sind aber nicht nötig, um dieses Buch zu verstehen. Dieses Buch kann man auch ganz einfach lesen.“
Das kann man tatsächlich; mit Lust an Kirchhoffs stilsicheren Beschreibungen und mit gespannter Erwartung auf die nächste überraschende Wendung. Das Ziel von Hinrichs Odyssee ist das antike Pompeji.
Die Ruinenstadt im Schatten des Vesuvs ist ein Ort der Leerstellen. Die Körper der Fliehenden, die beim Vulkanausbruch 79 nach Christus von der Lava überrascht wurden, verbrannten – und überdauerten doch die Jahrhunderte als Leerstellen unter der erkalteten Masse. Diese Leerstellen wurden mit Gips ausgegossen und zeigen jetzt wieder die ursprünglichen Körper, ihre Lage, ihren Gesichtsausdruck. Und so stehen sie Modell für Kirchhoffs Definition des erotischen Verlangens. Es existiert ebenfalls als Leerstelle, die wir stets aufs Neue mit Inhalt zu füllen versuchen.