Buchbesprechung für NDR INFO April 2015
Haben wir einen freien Willen? Können wir selbstbestimmt entscheiden, was wir tun – oder bilden wir uns das nur ein, während in Wirklichkeit unser Gehirn für uns entscheidet? Über diese Frage streiten Wissenschaftler seit Jahrhunderten. In jüngster Zeit haben prominente Hirnforscher, darunter die Deutschen Gerhard Roth und Wolf Singer den freien Willen verabschiedet. Dem widerspricht der Freiburger Hirnforscher Joachim Bauer in seinem neuen Buch „Selbststeuerung“ vehement:
Ja, der freie Wille existiert. Er ist eine subjektive Erfahrungstatsache, die über unsere biologischen Grundfunktionen weit hinausgeht, sagt Joachim Bauer:
Im Fall des freien Willens kann man deutlich sehen, dass Menschen Dinge tun, die mit der eigentlichen simplen Logik der Biologie gar nicht zu erklären sind. Also warum steigen Bergesteiger wie Reinhold Messmer (!) auf 7.000-er, oder warum fasten Menschen und essen wochenlang nichts oder warum hat Hölderlin seine Texte geschrieben, die kein Mensch versteht?
Joachim Bauer widerspricht Hirnforschern wie Gerhard Roth und Wolf Singer. Wenn sie behaupten, der freie Wille sei nur eine Illusion, dann berufen sie sich auf ein berühmtes Experiment des Forschers Benjamin Libet. Er ließ Testpersonen einen Knopf drücken und auch angeben, wann sie sich entschieden hatten, zu drücken:
Kurz bevor die Person sagt, ich habe mich entschlossen den Knopf zu drücken – kurz davor bereits kann man aus der Hirnstromkurve ein Potential ableiten, ein sogenanntes Bereitschaftspotential; und das hat Roth und Singer veranlasst zu sagen AHA! wenn im Gehirn Signale zu sehen sind, die sich bereits einstellen bevor die Person sagt, ich habe mich entschlossen etwas zu tun dann, hat eigentlich das Gehirn entscheiden und nicht das Ich der Person – das ist der Fehlschluss von Roth und Singer.
Warum das ein Fehlschluss ist, erklärt Joachim Bauer in seinem auch für Laien verständlichen Buch ausführlich:
Wenn ich einer Testperson die Möglichkeit gebe innerhalb von 4 -5 Sekunden frei zu entscheiden, wann ich einen Knopf drücke mit dem Finger – das ist etwas völlig anderes, als das was wir den freien Willen bezeichnen. Der freie Wille bedeutet, dass ein Mensch die Möglichkeit hat, in Ruhe nachzudenken und eine Wahl zu treffen.
Wir handeln nicht stur nach den Regeln von Reiz und Reaktion. Unsere Entscheidungen fallen nicht wie eine Kugel, die einen schrägen Tisch hinab rollt. Wir haben Gründe, etwas zu tun. Und diese Gründe ergeben sich als Kompromiss aus zwei inneren Prozessen:
Das eine ist ein von unten kommender Bedürfnis- und Triebprozess; dazu gehören Dinge wie Hunger, Aggression, Lust, Verlangen. Das geschieht bottom up, von unten, dampfkesselartig von uns erlebte Dinge- und dann gibt es einen top down Prozess, also einen Kontrollprozess mit dem wir uns selber ein Stück weit kontrollieren können.
Schon Sigmund Freud hatte diese beiden Kräfte entdeckt und auf die berühmte Formel gebracht: Wo Es war, soll Ich werden. Diesen Prozess nennt Joachim Bauer Selbststeuerung:
Mit dem Begriff der Selbststeuerung. meine ich nicht einseitig die Fähigkeit des Menschen, sich selber Zügel anzulegen, sondern Selbststeuerung ist in meiner Definition eine Balance zwischen: die Bedürfnisse der triebhaften Anteile einerseits und die Vernunft der top down-control gegeneinander auszubalancieren.
Für Joachim Bauer ist die Selbststeuerung die entscheidende Fähigkeit einer reifen Persönlichkeit. Der Mediziner und Hirnforscher hat überzeugende Argumente zur Existenz des freien Willens. Er schreibt flüssig, allgemeinverständlich und mit Empathie. Weil Joachim Bauer als Naturwissenschaftler über die Grenzen seines Fachs hinausblickt, schafft er es, Erkenntnisse aus Biologie und Philosophie zu verbinden: Der freie Wille feiert ein starkes Comeback.